Über kuffersepp

Sepp Kuffer, geb. 1948. 1970 - 72 Mitglied der Land- und Musikkommune Lord's Family. Danach 36 Jahre im Pflegedienst tätig. Lebenslange künstlerische Tätigkeit als Maler/Grafiker, Musiker, Autor und Filmemacher. "Es gibt nur eine Energie, die uns helfen und heilen, kreativ schaffen und den Alltag und die Welt und unsere Beziehungen gestalten lässt. Es ist der Hauch aus dem Mund Gottes, der Geist, oder wie immer wir die Präsenz Gottes in seiner Welt nennen wollen"

Übrigens: Gas?

(Ein Text, entstanden vor dem Ukrainekrieg und der Energiekrise)

Der Gasmann

Gestalt, Schicksal und Wissen, das sind wesentliche Einflussgrößen für das, was wir eine Persönlichkeit nennen. Im Jahre 2002 durfte ich den vermutlich letzten lebenden Gasmann sehen und bei der Arbeit beobachten. Wird es noch einmal einen solchen geben, der es verdient, Gasmann genannt zu werden? Der nicht nur den Beruf eines Gasfacharbeiters ausübt, den es zweifellos bis heute gibt und geben wird, solange Energie in diesem Aggregatszustand durch Rohre in Herde und Heizungen fließt, sondern eine Person, die Gasmann ist, in Gestalt, Wissen und Schicksal?

Gerne erzähle ich hier, wie es dazu kam. Wir hielten uns in einem kleinen toskanischen Städtchen auf – kein solches, das von Zypressen und Pinien umrahmt inmitten ockerbraun versengter Hügellandschaften auf einem Berge steht, wie in einem Fotokalender. Unser Ort war ein eher unbekannter, in dem Menschen weitgehend unbehelligt vom Tourismus ihren Alltag leben. Obwohl wir uns dort in Urlaubstagen aufhielten, hatten auch wir Alltag zu bewältigen. Denn in dem Haus, das wir gemietet hatten, funktionierte manches nicht. Auch nicht der Gasherd. Ein anderes Land kennen lernen heißt für meine Frau und mich einzukaufen und zu kochen, was man in diesem Lande einkauft und kocht. Und zu essen, was man dort isst. Wir brauchten den Herd. 

Im Umgang mit Gasherden haben wir wenig Erfahrung. Zuhause benutzen wir einen Elektroherd. Deshalb riefen wir nach einigem Herumprobieren die Vermieterin an. Sie zeigte uns, wo die Gasflasche vor dem Haus gelagert und wie sie mit dem Herd verbunden ist, sie prüfte selbst den Füllungszustand und den korrekten Anschluss der Flasche und drehte am Hahn. Kein Rauschen, kein Strömen, der feine Gasgeruch blieb ebenso aus wie das Zusammenzucken beim Aufflammen und endlich der bläuliche Flammenkranz. Die Signora holte den Nachbarn zu Hilfe, ihren Onkel, einen Installateur, auf den sich nun unsere Hoffnung richtete, weil der sich mit Röhren und Anschlüssen und Strömungen auskennt. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Der Installateur schlug ein paar Mal mit einem Schlüssel an die Rohrleitung, drehte an den Reglern und Hähnen, horchte und schnupperte. Nichts.

Die Signora gab zu verstehen, dass sie nun einen Fachmann verständigen würde, wir sollten warten. Sie fuhr nach Hause, um zu telefonieren.

Es dauerte nur eine Stunde, da erschien am Ende der Pappelallee eine dunkle Gestalt auf dem Fahrrad. In ruhiger Fahrt knirschte sie durch das geöffnete Hoftor. Ein schmächtiger Mann stieg ab auf Männerweise, indem er das rechte Bein nach hinten über Stange und Sattel schwang, noch wenige Meter auf dem linken Pedal stehend ausrollte und schließlich, noch in leichter Fahrt, elegant absprang.

Woher weiß ich, dass so und nicht anders ein Gasmann aussieht? Welche vorgeburtliche Kenntnis prägt meine Erwartung? Er ist klein, nicht mehr jung, gekleidet in schwarzen Drillich. Ein zierlicher Mensch, glatt rasiert, hinter der kleinen runden Brille in schwarzer Metallfassung erfahrene Reptilaugen, der Blick einer Gelassenheit, die Zigtausende von Gasproblemen kennen gelernt und bewältigt hat. Ja, er erinnert an einen buddhistischen Mönch. Lediglich die knappe schwarze Schirmmütze auf kaum behaartem Kopf zeigt, dass sich der Mann bei der Arbeit und nicht bei der Kontemplation befindet.

Sein „Buon’Giorno“ ist sparsam und freundlich, ein angedeutetes Lächeln zeigt seine Bereitschaft zu helfen, aber ohne unangemessene Freundschaftlichkeit gegenüber deutschen Touristen. Er nimmt seinen schwarzen Werkzeugkoffer vom Gepäckständer, betritt die Wohnung, lässt sich zur Küche führen, wo der Gasherd steht.

Warum interessiert mich dieser Gasmann und warum schreibe ich heute über ihn? Was hat mich angerührt? 

Gas gehört zu meinen Kindheitsgerüchen. Meine Großeltern wohnten im eigenen Haus am Stadtrand zwischen Nürnberg und Fürth und hatten Gas. Alle hatten Stadtgas. Die Einrichtung der 1930er Jahre, vom Zigarettenrauch des Großvaters zart patiniert, der Duft der Schubladen, von denen ich eine ungefragt öffnen durfte, die mit den Bleistiften, all das vermischte sich mir mit den noch vorhandenen Baulücken und zerbombten Kellergewölben nicht weit entfernt zu einem Duftcocktail, der jederzeit in der Erinnerung fertig gemixt erstehen kann. Als Jugendlicher, der 1964 tief betroffen Wolfgang Borchert’s „Draußen vor der Tür“ gelesen hat, wo Beckmann mit der Gasmaskenbrille wieder aus der Kriegshölle auftaucht, kann ich das Wort Gas nicht mehr ohne seinen tödlichen Geruch denken. Jene Verzweifelten, die in ihrer Wohnung den Gashahn aufgedreht hatten, um lieber zu sterben, machten aus Gas ein Medium der Hoffnungslosigkeit. Erinnern Sie sich an die alles überragenden runden schwarzen Gaskessel in den Städten? Dort wurde dieses unheimliche Strömen erzeugt, das in dünnen Röhren alle Häuser erreichte. Zum Kochen, Backen, Heizen und Sterben. Ich will gar nicht reden von den Millionen jüdischen Bürgern des Deutschen Reiches und der überfallenen Gebiete, die Hitler, Eichmann und andere Gasherdbesitzer ins Gas geschickt haben. Der Deutsche und Gas: Sollte diese Verbindung endgültig eine tödliche sein? Selbst eine Männerfreundschaft zwischen dem ehemaligen Kanzler Schröder und dem russischen Präsidenten Putin gründet irgendwie im Gas und macht sie verdächtig. Wer alles dreht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gas auf und zu und warum? Der amerikanische Präsident warnt derzeit den Syrer Assad vor dem Ausbringen von Gas gegen seine eigenen Bürger.

Wer kann bei dem Wörtchen Gas aufgeschlossenes, wohlwollendes Interesse empfinden?

Nun tritt der toskanische Gasmann mit Ernst, aber nicht unfreundlich, mit Respekt, aber ohne Furcht, mit Wissen und Erfahrung, aber ohne Überheblichkeit an seine Aufgabe heran. Mit wenigen Handgriffen hatte er die oberen Emailleverkleidungen des Herdes gelöst und die Gas führenden Röhren freigelegt. 

Der Gasmann besteht nur schwer gegenüber anderen Berufsbildern. Dem der Blumenfrau zum Beispiel. Sie versorgt die Menschen mit Duft und Farben und bereitet Müttern Freude. Oder dem des Pferdeflüsterers: Welch rührende, Kinder wie Erwachsene, vor allem Mädchen und Frauen faszinierende Tätigkeit. Oder der Krankenschwester. Die Patienten rufen: Schwester! Wer möchte nicht Schwester der Leidenden sein. Anders schon wieder der KrankenpflegerPfleger! Dieser Ruf klingt nicht so anrührend. Während meiner früheren pflegerischen Tätigkeit wurde ich zuweilen von älteren Männern Sanitäter! gerufen. Verständlich, denn sie hatten noch das Lazarett im Altgedächtnis. Ich gestehe, dass ich es sehr amüsant fand, für sie in Friedenszeiten im Lazarett dienen zu dürfen. Niemand aber wird je Gasmann! rufen. Es gibt unbestreitbar Berufe, die noch weniger ergreifend sind: Bankdirektor beispielsweise, Interimsmanager oder Bestatter. 

Wie zu erwarten, hatte der Gasmann das Problem in wenigen Minuten, mit wenigen Handgriffen gelöst. Ein paar Rohrteile nahm er heraus, steckte sie wieder zusammen, ohne Kommentare, die wir ohnehin nicht verstanden hätten. Er verließ kurz das Haus, um den Gashahn der neben der Hintertüre befindliche Gasflasche erneut aufzudrehen, kam zurück in die Küche, knipste mit dem Anzünder und der Flammenkranz fauchte auf. „Ecco“. Wir konnten wieder kochen.

Er warf sein Werkzeug zurück in den Koffer, tippte kurz mit dem Zeigefinger an den Mützenschirm, deutete eine Verbeugung an und verließ den Raum. Wir folgten ihm aus dem Haus, waren nicht in der Lage, unserer Dankbarkeit irgendeinen Ausdruck zu verleihen, stammelnd sahen wir ihm nach, ihm, dem toskanischen Gasmann. Er war aufs Rad gesprungen und knirschte durch den Kies hinaus, die Dienstmütze in die Stirne gerückt, die Pappelallee hinunter. Beinahe hätte ich mich kurz nieder gekniet, wie man es bei den Meistern tut, die uns das Leben lehren, die uns erlösen aus den Verliesen unserer Ängste und Vorurteile.

(Sommer 2012)

Aus „Die schwarze Null“ erschienen 2022

Ich lasse in meinen Memoiren einen zu Wort kommen, der seit Beginn der Stiftung Patron und Namensgeber ist: Antonius den Großen, den Wüstenvater, dessen Skulptur zwar unbeweglich an der Mauer des Antonistifts hängt, dessen Geist aber präsent und weitblickend ist. Bei meinen Recherchen sind wir uns begegnet. Er hat mich angesprochen und wir haben uns auf Anhieb verstanden. Antonius teilt nicht nur Einblicke in Sternstunden und Sündenfälle der Geistesgeschichte mit mir, sondern inspiziert auch den Autor und spiegelt ihm seinen Anteil am Drama seiner Biografie. Zugleich bietet er mir jenes Element des Phantastischen, das so gut zu Bambergs Historie passt und das den Leser erlösen kann, wenn die Erzählung meiner beruflichen Leidensgeschichte trostlos zu werden droht. Er souffliert zwischen den Bühnenbildern meiner trockenen Erzählungen, flüstert mir und den Leserinnen zu: Werft einen Blick auf das große Ganze, nach vorne und zurück. Atmet ein und atmet aus und nehmt euch nicht zu ernst. Das tut gut, denn sonst würden wir in unserer Froschperspektive verharren.

Antonius über die Versuchung des Humanismus

Der Wüstenvater Antonius an der Mauer des Antonistift in Bamberg

„Halt. Dazu muss ich etwas sagen. Wenn es gerade um das Fleisch und seine Leidenschaften und Begierden geht, fühle ich mich angesprochen. Ich möchte nicht, dass hier manche Leser aussteigen, weil sie sich von diesen mittelalterlich klingenden Formulierungen befremdet fühlen. Ich könnte das verstehen. Josef zitiert hier nur Paulus.

Er war ja noch sehr jung und von einem gewissen religiösen Idealismus beseelt, der in seinem Beruf ein großes, herausforderndes Betätigungsfeld gefunden hatte. Wie oft bei Bekehrten, die alles auf eine Karte setzen und dem Meister nachfolgen wollen, nahm er seine Aufgabe etwas zu wichtig, zu persönlich, verknüpfte sein Heil mit dem der Anderen. Erst allmählich konnte er vertrauensvoller und mit größerer Gelassenheit die Entwicklung der Dinge und die Verschiedenheit der Menschen in ihrem Auftreten und ihren Herangehensweisen betrachten. Dinge gelingen nicht dadurch, dass wir anderen unsere Ideale überstülpen wollen und erwarten, dass sie uns nachahmen, sondern indem wir unser Vertrauen auf die guten Kräfte in uns und zwischen uns setzen.

Nein, ein Weichei ist Josef nicht. Entschieden und mutig setzt er gegen verschiedene Widerstände einen Prozess in Gang, zündet ein Licht an, in dem die Mitarbeiterinnen ihren Beruf als gesellschaftlich bedeutsam und als Profession erkennen können, lehnt sich auf gegen das defizitäre Bild vom Pflegeberuf, das in der Gesellschaft und sogar im eigenen Haus herrscht als von denen, die den Alten den Arsch abputzen. Er teilt Verantwortung, fördert Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein der Pflegenden. Er tritt gerne hinter sich zurück und vermittelt den lernenden Gruppen das Erfolgserlebnis, selbst die Lösungen gefunden zu haben und diese verwirklichen zu können. So ist es nun mal, und so ist es gut: Der Urheber verschwindet, aber die angestoßene Bewegung geht weiter. Wenn Josef von der Explosion in seiner beruflichen Weiterentwicklung schreibt, ist das nicht übertrieben. Er erlebt das zum ersten Mal in seinem Leben. 

Aber auf diesem Pilgerweg liegt eine andere Versuchung – und nicht nur für Josef, sondern für die Menschheit als Ganzes. Es mischt sich ein anderes Licht in das des schlichten Glaubens, das ihn einst zum Pflegedienst am kranken, armen und behinderten Menschen berufen hatte. Es ist das Licht des Humanismus und der rationalen, wissenschaftlich fundierten Aufklärung. Es geht fürderhin nicht mehr um schlichte Barmherzigkeit, um den direkten Dienst an den alten und kranken Menschen.

Diese faszinierende Idee des Menschen als ganzheitliches Wesen der Pflegetheoretikerinnen rührt vor allem aus der humanistischen Psychologie des Abraham Maslow, der sich mit den Bedürfnissen des normalen durchschnittlichen Menschen befasste und eine Wissenschaft der Werte postulierte. Diese neue Sichtweise kann man durchaus als eine Revolution betrachten, die Maslow in einer Reihe mit Galilei, Darwin, Einstein, Freud und Marx stellt. Auf seine Wissenschaft griffen die Pflegetheoretikerinnen zurück, um die Pflegetätigkeit nicht mehr den Emotionen und Traditionen oder auch charismatischen Berufungen zu überlassen, wozu auch das Verständnis der Pflege als einer erbarmenden und dienenden Eigenschaft der Frauen gehört, sondern als evidenzbasiertes gesellschaftlich notwendiges Handeln zu begründen.

Den Menschen als integrierte Einheit von Körper, Seele und Geist zu begreifen ist ja eine hohe Einsicht – aber sie ist nicht neu. Im alten Wissen wurde der Mensch eh und je so wahrgenommen. Man hatte es nicht so genannt, weil es zu selbstverständlich war, aber die Therapien waren immer von einem Wissen geleitet, das auf die ersten hunderttausend Jahre der Menschheit und die schamanische Heilkunst zurückgeht. Das Antoniusfieber, das ich schon kurz erwähnt habe, war eine furchtbare Erkrankung vor allem der Armen, die durch den Genuss von mit Mutterkorn-Pilz vermischtem billigen Mehl hervorgerufen wurde. Schwere Durchblutungsstörungen der Arme und Beine führten zum Absterben der Gliedmaßen. Die verfärbten sich zuerst rot, dann blau, dann schwarz unter höllischen Schmerzen. Meine Nachfolger, die Brüder des Spitalordens der Antoniter, hatten ein – aus heutiger Sicht – ganzheitliches Verfahren erfolgreich angewendet: Eingehende Untersuchung mit differenzialdiagnostischem Vorgehen und dem Gebot der Compliance[1]. Zuerst wurde nur noch gesundes, gutes Brot verabreicht. Dann Trinken von hohen Dosen Antoniuswein, einem Wein aus Heilkräutern, in den zuvor meine eigenen Reliquien getaucht wurden. Man hatte ihn also nach homöopathischem Prinzip mit heilsamen Informationen versehen. Dazu Auftragen von Heilkräuterbalsam, dessen Inhaltsstoffe gefäßerweiternd und antibakteriell wirkten. Erst wenn Gliedmaßen nicht mehr zu retten waren, wurde amputiert und die Amputationswunde mit Antoniusbalsam versorgt. Gleichzeitig bestand ein Teil der Therapie darin, dass die Patienten Gemälde zu betrachten hatten, die mich mit meinen Versuchungen zeigten. Diese waren dafür eigens in Auftrag gegeben worden bei Matthias Grünewald und Hieronymus Bosch. Meine Überwindung des Bösen, was die Gemälde zeigten, befähigt zur Selbstheilung. Hier kann doch wahrlich von ganzheitlicher Therapie gesprochen werden.

Für Josef waren diese Einsichten, wie er selbst sagt, Erleuchtung. Maslows zutiefst humanistisches Menschenbild offenbarte sich ihm gleichsam als Licht der Welt, das, befreit von ideologischer, auch religiöser Enge, alle Menschen der Welt erreichen kann. Im Begriff der Pflege als gesellschaftlich notwendiges Handeln wird das humanistische Anliegen in die Mitte jeder menschlichen Gesellschaft und ihrer Kultur gestellt. Hat die gequälte Menschheit sich nicht danach gesehnt? Und dieses Licht ist ja noch lange nicht bis an die Enden der Erde vorgedrungen. Dieses Licht der Aufklärung, der erleuchteten Vernunft, der Gerechtigkeit und Schönheit in die Welt zu tragen, war bereits der Urauftrag des Ewigen an sein Volk. Seinen Geist an die Stelle der Götzen, der falschen Werte und Ziele zu setzen, die blutigen Kulte um das Nichtige zu entlarven, den klaren Blick der Vernunft zu öffnen. Es ist der Auftrag an sein Volk im ersten Bund, den er mit Israel geschlossen hatte. Von diesem Gesetz wird kein Jota überflüssig sein, in Jesus soll es erfüllt werden: Licht für die Völker zu sein. Und dies zeigt sich in der Geschichte seines Volks bis heute. 

Der Zugriff auf ein wissenschaftliches Fundament – das ist auf dem Heiligen Michelsberg nichts Neues. Meine besten Leute, darunter Fürstbischof Ludwig Erthal, waren trotz ihrer Bindung an Christentum und Kirche Freunde der Aufklärung und der Wissenschaft. Genau gesagt: Nicht trotz, sondern deswegen! Schließlich hatte ich Erthal eingehend beraten. Ihm und seinem ehemals jüdischen Leibarzt Adalbert Marcus verdankt die Stadt das modernste Krankenhaus im Jahr 1789, ihre Nervenklinik Fidelis da oben, wohin erstmals die eingekerkerten und angeketteten Wahnsinnigen als Kranke in menschliche Verhältnisse gebracht wurden, ein Spital, in dem die Trennung von Akutkranken und Langzeitkranken vorgenommen wurde. Eine Sozialversicherung für Handwerker und Arbeiter und gleiche, wissenschaftlich fundierte Medizin und geeignete Genesungsbedingungen für alle, auch die ärmsten Dienstboten. Wer möchte bestreiten, dass dies Fortschritte im Kampf gegen das Elend und für das Heil der Ärmsten und Benachteiligten sind? Und dass solches somit an Jesus selbst getan ist?

Hat Josef also gegen seine ursprüngliche Berufung verstoßen? Ist er ihr untreu geworden? Ja und nein!

Ich darf bemerken: Das ist der Gang der Dinge. Es ist der alte Weg des Menschen hinaus aus dem Paradies. Das Paradies ist gekennzeichnet durch Einfachheit der Beziehung. Erstes Verliebtsein, nur du und ich, nur Gott und ich und meine Entscheidung, nur ein einziges Gebot. Ein Kind im Mutterleib, vollkommene Geborgenheit.

Das war auch mein Weg. Nur Gott und ich, deshalb hinaus in die Einsamkeit, in die Wildnis! Der Anachoret bin ich geworden, der Asket. Aber Er, der Ewige, hat den Menschen anders konzipiert. Er hat den Menschen als Mann und Frau[2]geschaffen. Der Mensch beißt in die verbotene Frucht, weil er es kann. Der lustvollere und neugierigere Teil des Menschen, die Frau, öffnet die Türe. Ihr ist das simple Eins-plus-eins zu wenig. Der Ewige hat dem Menschen die Frucht verboten, damit er sie auf jeden Fall findet. Sie ahnt, dass hinter der verbotenen Türe das ganze Universum darauf wartet, entdeckt zu werden. Damit werden die Menschen zwar das Paradies verlassen, aber sie werden Zeit und Raum erobern und dabei ihre Naivität verlieren. Damit haben sie auch die Verantwortung für sich selbst und das Leben auf dem Planeten.

Das wiederholt sich immer und ewig. Und ich sage: So muss es auch sein. Wer sein Leben lang in der paradiesischen Einfachheit des Lebens verweilen zu können glaubt, wird die Tiefe der Herrlichkeit und Schrecklichkeit Gottes und die Fülle des Lebens nicht kennen lernen. Oder meint Ihr, das Universum sei ein Kinderspielplatz, eine Kulisse für Kitschfilme? Das ganze Leben ist ein einziger Sündenfall. Aber: Welch einen Erlöser haben wir gefunden?! Warum liebte der Vater den verlorenen Sohn[3] so sehr? Er hat das Paradies der Einheit verlassen und sich auf seinen eigenen Weg gemacht. Erst dort hat er die Wirklichkeit erkannt und begonnen, den Vater zu begreifen und ihn zu lieben.

Die Wirklichkeit erkennen: Das wiederholt sich auch, wenn wir beginnen zu begreifen, dass die Sprache, die uns von den Eltern und der Umgebung verliehen wurde, nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern allenfalls ein Bildnis der Wirklichkeit ist, die zu fassen wir kaum imstande sind. Sprache ist Konvention, Vertrag, Vereinbarung unserer Wünsche und Bedürfnisse. Ist es nicht, wie wenn ihr in den Nachthimmel blickt und die Sternbilder sucht? Dann seht ihr Orion, den Wagen, den Steinbock oder das Kreuz des Südens. Ihr freut euch, dass ihr sie gefunden habt und ihr seht augenscheinlich dasselbe. Aber ihr wisst auch, dass die Bilder nicht Wirklichkeit sind, sondern nur in eurer Kultur vereinbarte Bilder. Die Sterne sind in Wahrheit Gebilde in höchst unterschiedlichen Größenordnungen und Tiefen, Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxien, Sonnen, Planeten, furchtbare, fremde, ungastliche Gebilde, Feuerhöllen, wabernde Gaskugeln, deren Licht wegen ihrer Entfernung zu unterschiedlichsten Erdaltern eure Teleskope und Augen erreicht haben. Sie strahlen, blinken, glänzend und fahl – aber auf eurer Netzhaut bilden sie ein flächiges, an den nachtblauen Himmel getüpfeltes Bild. Und doch erzeugt ihr Bild etwas Eigenes, das euch anrührt, eine Ahnung von der Wirklichkeit und ihrer unendlichen Größe und regt euch an, seinen Schöpfer zu loben mit Lyrik und Musik.

Ich will gar nicht reden über die Bedingungen des Sprechens, über die Störungen. Wie genau hört ihr hin? Was habt ihr verstanden? Wie oft hörst du Dinge, die nicht gesagt wurden, sondern die deine Empfindlichkeit, deine Verletzlichkeit hört? Du hörst zwischen den Zeilen, weil du den Worten misstraust. Die Worte sind nicht Wirklichkeit. Und doch bilden sie eine eigene, wundervolle Welt. Die Wirklichkeit scheint in sie hineinzuwirken, mit ihr zu spielen und wir spielen mit ihr. Das ist ein Zauber. Eine Nebelkammer, in der Leuchtspuren von Wirklichkeit aufglühen. Das ist Lyrik, das ist Literatur. Sie kann Wirklichkeit erzeugen. Die Dichter und Schriftsteller sind die Priester, die euch das Opfer der Schrift und der Worte darbringen.

Der Das Wort gebracht hat, der Ewige, Heilige, dessen Namen wir nicht aussprechen können, weil Er allein der Gegenwärtige ist, auch er bedient sich eurer Sprache, spielt mit euch in diesem gemeinsamen Raum. Er schließt mit euch Verträge, an die ihr euch halten solltet. Aber wer sich ihm nähern will, wird von der Sprache ablassen. Er wird still. Er beendet sein Plappern. Der schaut mit all seinem Vermögen in die Stille und die Dunkelheit und versucht Ihn zu erkennen. Was ihr Wirklichkeit nennt, ist leer. Es genügt, zu atmen. Ein, aus. Wer nur einen Funken Seiner Wirklichkeit wahrnimmt, ist für alle Zeit geschlagen, ist nie mehr derselbe und nur Demut schützt vor dem Wahnsinn. Du bist erwacht aus der Illusion, aus deinem Traum von der Wirklichkeit. Du bist geblendet und man hält dich vielleicht für psychotisch oder krank.

Josef findet in diesem neuen Licht seinen Glauben an politische Befreiung, seine Leidenschaft für Kunst und Ästhetik, seinen Glauben an die Bildung, seine Hoffnung auf Gerechtigkeit, seine Überzeugung von der grundsätzlichen Güte aller Menschen – zumindest aller Menschen guten Willens – wieder. Josef weiß jetzt: Gott geht mit mir. Seine Liebe begleitet mich auch in meinen Wagnissen, bei meinen Schritten ins Unbekannte. 

Der Sündenfall Josefs ist sein Erwachen zur größeren Wirklichkeit von Welt und Menschsein. Er bringt es mit sich, dass er nun auch persönlichen Erfolg hat. Er übernimmt und genießt seine Rolle in dieser Entwicklung. 

Er veröffentlicht in der Fachpresse, er lehrt und verwirklicht eigene Ideen mithilfe seiner Kontakte zur Industrie. 

Darin ist gewiss eine neue Versuchung enthalten. Erfolg, Ruhm und höheres Einkommen führen Menschen oft zu Selbstüberschätzung, Überheblichkeit, bis hin zu Selbstbetrug, ausschweifendem Leben und der allmählichen Loslösung vom menschlichen Maß. Der Lebensstandard Josefs und seiner Familie hebt sich nun zwar. Sie fahren einen Mercedes und können Urlaub in der Toscana machen. Aber so hoch war sein Einkommen trotz allem nicht und Josef ist wohl reflektiert und weiß, was er an seiner Frau, seinen Kindern und seiner Familie hat. Einen größeren Wagen hätte er für seine heranwachsenden vier Kinder ohnehin benötigt – und er war sich durchaus der Kindlichkeit seines Traums bewusst, als er einen ersten gebrauchten Mercedes kaufte. Nein, in diese Falle geht er nicht. Er bewahrt sich seine Bescheidenheit und bleibt von Leichtsinn und Übermut verschont. Doch scheint er nun in der Welt angekommen, scheint seinen Ort gefunden zu haben.“

[1]  Differenzialdiagnose: Ausschluss anderer möglicher Diagnosen. Compliance, hier: Das Befolgen der ärztlichen Anweisungen, Zusammenarbeit mit dem Arzt

[2]  Gen 1, 27

[3]  Lk 15;11-32

Warum?

Eine starke Berührung mit der Transzendenz – oder wie soll man es nennen – eine transpersonale Erfahrung, ein psychotisches Trauma, ein Einblick in das, was Mensch nicht sehen kann, nicht sehen darf … das wäre eher geeignet gewesen, das Leben eines 22-jährigen Aussteigers vollends aus der Bahn zu werfen oder in die Arme eines mehr oder weniger zweifelhaften Gurus oder Meisters zu treiben, die sich in den 70er Jahren um die Ausgestiegenen bemühten. Aber es war das Kreuz mit dem gequälten und gefolterten Mann, jenem Symbol des Christentums, das mir nach dieser Erfahrung nahe kam und eine mir noch nicht auslotbare Botschaft brachte.