Übrigens: Gas?

(Ein Text, entstanden vor dem Ukrainekrieg und der Energiekrise)

Der Gasmann

Gestalt, Schicksal und Wissen, das sind wesentliche Einflussgrößen für das, was wir eine Persönlichkeit nennen. Im Jahre 2002 durfte ich den vermutlich letzten lebenden Gasmann sehen und bei der Arbeit beobachten. Wird es noch einmal einen solchen geben, der es verdient, Gasmann genannt zu werden? Der nicht nur den Beruf eines Gasfacharbeiters ausübt, den es zweifellos bis heute gibt und geben wird, solange Energie in diesem Aggregatszustand durch Rohre in Herde und Heizungen fließt, sondern eine Person, die Gasmann ist, in Gestalt, Wissen und Schicksal?

Gerne erzähle ich hier, wie es dazu kam. Wir hielten uns in einem kleinen toskanischen Städtchen auf – kein solches, das von Zypressen und Pinien umrahmt inmitten ockerbraun versengter Hügellandschaften auf einem Berge steht, wie in einem Fotokalender. Unser Ort war ein eher unbekannter, in dem Menschen weitgehend unbehelligt vom Tourismus ihren Alltag leben. Obwohl wir uns dort in Urlaubstagen aufhielten, hatten auch wir Alltag zu bewältigen. Denn in dem Haus, das wir gemietet hatten, funktionierte manches nicht. Auch nicht der Gasherd. Ein anderes Land kennen lernen heißt für meine Frau und mich einzukaufen und zu kochen, was man in diesem Lande einkauft und kocht. Und zu essen, was man dort isst. Wir brauchten den Herd. 

Im Umgang mit Gasherden haben wir wenig Erfahrung. Zuhause benutzen wir einen Elektroherd. Deshalb riefen wir nach einigem Herumprobieren die Vermieterin an. Sie zeigte uns, wo die Gasflasche vor dem Haus gelagert und wie sie mit dem Herd verbunden ist, sie prüfte selbst den Füllungszustand und den korrekten Anschluss der Flasche und drehte am Hahn. Kein Rauschen, kein Strömen, der feine Gasgeruch blieb ebenso aus wie das Zusammenzucken beim Aufflammen und endlich der bläuliche Flammenkranz. Die Signora holte den Nachbarn zu Hilfe, ihren Onkel, einen Installateur, auf den sich nun unsere Hoffnung richtete, weil der sich mit Röhren und Anschlüssen und Strömungen auskennt. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Der Installateur schlug ein paar Mal mit einem Schlüssel an die Rohrleitung, drehte an den Reglern und Hähnen, horchte und schnupperte. Nichts.

Die Signora gab zu verstehen, dass sie nun einen Fachmann verständigen würde, wir sollten warten. Sie fuhr nach Hause, um zu telefonieren.

Es dauerte nur eine Stunde, da erschien am Ende der Pappelallee eine dunkle Gestalt auf dem Fahrrad. In ruhiger Fahrt knirschte sie durch das geöffnete Hoftor. Ein schmächtiger Mann stieg ab auf Männerweise, indem er das rechte Bein nach hinten über Stange und Sattel schwang, noch wenige Meter auf dem linken Pedal stehend ausrollte und schließlich, noch in leichter Fahrt, elegant absprang.

Woher weiß ich, dass so und nicht anders ein Gasmann aussieht? Welche vorgeburtliche Kenntnis prägt meine Erwartung? Er ist klein, nicht mehr jung, gekleidet in schwarzen Drillich. Ein zierlicher Mensch, glatt rasiert, hinter der kleinen runden Brille in schwarzer Metallfassung erfahrene Reptilaugen, der Blick einer Gelassenheit, die Zigtausende von Gasproblemen kennen gelernt und bewältigt hat. Ja, er erinnert an einen buddhistischen Mönch. Lediglich die knappe schwarze Schirmmütze auf kaum behaartem Kopf zeigt, dass sich der Mann bei der Arbeit und nicht bei der Kontemplation befindet.

Sein „Buon’Giorno“ ist sparsam und freundlich, ein angedeutetes Lächeln zeigt seine Bereitschaft zu helfen, aber ohne unangemessene Freundschaftlichkeit gegenüber deutschen Touristen. Er nimmt seinen schwarzen Werkzeugkoffer vom Gepäckständer, betritt die Wohnung, lässt sich zur Küche führen, wo der Gasherd steht.

Warum interessiert mich dieser Gasmann und warum schreibe ich heute über ihn? Was hat mich angerührt? 

Gas gehört zu meinen Kindheitsgerüchen. Meine Großeltern wohnten im eigenen Haus am Stadtrand zwischen Nürnberg und Fürth und hatten Gas. Alle hatten Stadtgas. Die Einrichtung der 1930er Jahre, vom Zigarettenrauch des Großvaters zart patiniert, der Duft der Schubladen, von denen ich eine ungefragt öffnen durfte, die mit den Bleistiften, all das vermischte sich mir mit den noch vorhandenen Baulücken und zerbombten Kellergewölben nicht weit entfernt zu einem Duftcocktail, der jederzeit in der Erinnerung fertig gemixt erstehen kann. Als Jugendlicher, der 1964 tief betroffen Wolfgang Borchert’s „Draußen vor der Tür“ gelesen hat, wo Beckmann mit der Gasmaskenbrille wieder aus der Kriegshölle auftaucht, kann ich das Wort Gas nicht mehr ohne seinen tödlichen Geruch denken. Jene Verzweifelten, die in ihrer Wohnung den Gashahn aufgedreht hatten, um lieber zu sterben, machten aus Gas ein Medium der Hoffnungslosigkeit. Erinnern Sie sich an die alles überragenden runden schwarzen Gaskessel in den Städten? Dort wurde dieses unheimliche Strömen erzeugt, das in dünnen Röhren alle Häuser erreichte. Zum Kochen, Backen, Heizen und Sterben. Ich will gar nicht reden von den Millionen jüdischen Bürgern des Deutschen Reiches und der überfallenen Gebiete, die Hitler, Eichmann und andere Gasherdbesitzer ins Gas geschickt haben. Der Deutsche und Gas: Sollte diese Verbindung endgültig eine tödliche sein? Selbst eine Männerfreundschaft zwischen dem ehemaligen Kanzler Schröder und dem russischen Präsidenten Putin gründet irgendwie im Gas und macht sie verdächtig. Wer alles dreht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gas auf und zu und warum? Der amerikanische Präsident warnt derzeit den Syrer Assad vor dem Ausbringen von Gas gegen seine eigenen Bürger.

Wer kann bei dem Wörtchen Gas aufgeschlossenes, wohlwollendes Interesse empfinden?

Nun tritt der toskanische Gasmann mit Ernst, aber nicht unfreundlich, mit Respekt, aber ohne Furcht, mit Wissen und Erfahrung, aber ohne Überheblichkeit an seine Aufgabe heran. Mit wenigen Handgriffen hatte er die oberen Emailleverkleidungen des Herdes gelöst und die Gas führenden Röhren freigelegt. 

Der Gasmann besteht nur schwer gegenüber anderen Berufsbildern. Dem der Blumenfrau zum Beispiel. Sie versorgt die Menschen mit Duft und Farben und bereitet Müttern Freude. Oder dem des Pferdeflüsterers: Welch rührende, Kinder wie Erwachsene, vor allem Mädchen und Frauen faszinierende Tätigkeit. Oder der Krankenschwester. Die Patienten rufen: Schwester! Wer möchte nicht Schwester der Leidenden sein. Anders schon wieder der KrankenpflegerPfleger! Dieser Ruf klingt nicht so anrührend. Während meiner früheren pflegerischen Tätigkeit wurde ich zuweilen von älteren Männern Sanitäter! gerufen. Verständlich, denn sie hatten noch das Lazarett im Altgedächtnis. Ich gestehe, dass ich es sehr amüsant fand, für sie in Friedenszeiten im Lazarett dienen zu dürfen. Niemand aber wird je Gasmann! rufen. Es gibt unbestreitbar Berufe, die noch weniger ergreifend sind: Bankdirektor beispielsweise, Interimsmanager oder Bestatter. 

Wie zu erwarten, hatte der Gasmann das Problem in wenigen Minuten, mit wenigen Handgriffen gelöst. Ein paar Rohrteile nahm er heraus, steckte sie wieder zusammen, ohne Kommentare, die wir ohnehin nicht verstanden hätten. Er verließ kurz das Haus, um den Gashahn der neben der Hintertüre befindliche Gasflasche erneut aufzudrehen, kam zurück in die Küche, knipste mit dem Anzünder und der Flammenkranz fauchte auf. „Ecco“. Wir konnten wieder kochen.

Er warf sein Werkzeug zurück in den Koffer, tippte kurz mit dem Zeigefinger an den Mützenschirm, deutete eine Verbeugung an und verließ den Raum. Wir folgten ihm aus dem Haus, waren nicht in der Lage, unserer Dankbarkeit irgendeinen Ausdruck zu verleihen, stammelnd sahen wir ihm nach, ihm, dem toskanischen Gasmann. Er war aufs Rad gesprungen und knirschte durch den Kies hinaus, die Dienstmütze in die Stirne gerückt, die Pappelallee hinunter. Beinahe hätte ich mich kurz nieder gekniet, wie man es bei den Meistern tut, die uns das Leben lehren, die uns erlösen aus den Verliesen unserer Ängste und Vorurteile.

(Sommer 2012)

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